Tear down the Wall
Roger Waters‘ Einlassungen zum Ukrainekrieg sind so zutreffend wie altersweise. Seine Entfernung von den offiziellen Narrativen westlicher Propaganda sorgt indes nicht nur für Ärger in der Cancel-Culture.
Rockgeschichte
Es muss im Jahr 1979 oder 1980 gewesen sein, an meinem zehnten oder elften Geburtstag. Ich feierte mit einigen Schulfreunden im Keller meines Elternhauses. Zur Beschallung musste ein Mono-Kassettenrecorder von der Größe eines Ziegelsteins herhalten. Darin steckte eine Kassette von Pink Floyd mit dem epochalen Werk The Wall und lief im Dauerplay, der Lautstärkeregler stand am Anschlag.
Vom epochalen Charakter und der musikhistorischen Bedeutung des Konzeptalbums bestand damals lediglich eine vage Ahnung. Trotzdem wurde beim Durchhören der vier Plattenseiten schnell deutlich, dass sich da etwas Besonderes, etwas Zeitloses auf dem Teller drehte: Eine perfekte Kombination von intensiver Musik und relevanten Texten, die sich thematisch um die destruktiven seelischen Nöte eines oberflächlich erfolgreichen, aber sozial-emotional isolierten Protagonisten drehte.
Roger Waters hatte The Wall mehr oder weniger im Alleingang konzipiert, komponiert und getextet und darin jede Menge Autobiografisches verarbeitet. Der Sage nach zog er sich nach den Erfolgen von Animals und Wish You Were Here für mehrere Wochen in die Klausur zurück und arbeitete das neue Material auf einer akustischen Gitarre aus. Heraus kam das nach Berlin von Lou Reed zweit-humorloseste Album der Rockgeschichte, gleichzeitig aber auch der musikalische Kern eines gewaltigen Opus voller tiefgründiger Symbolik und vielen Gelegenheiten für pathetischen Bombast. Waters war es gelungen, im Kampf mit seinen eigenen Geistern den Geist der Zeit zu treffen.
Mit The Wall hatte Waters seiner Band zudem einen stilistischen Stempel aufgedrückt, der maßgeblich für den kommerziellen Erfolg von Pink Floyd verantwortlich sein sollte (sieht man einmal von den Fehlkalkulationen bei den aufwendigen Bühnenshows ab). Eine Entwicklung, die sich bereits auf The Dark Side of the Moon abgezeichnet hatte, wonach Roger Waters‘ herausragende kompositorische und lyrische Fähigkeiten in zunehmendem Maße den Markenkern der musikalischen Sprache der Band bildeten. Deutlich wurde das nach dem Ausscheiden von Roger Waters nach The Final Cut: Der Torso von Pink Floyd um den Gitarristen David Gilmour klang fortan flach und uninspiriert und agierte fast schon dilettantisch bei den im Vornherein zum Scheitern verurteilten Versuchen, das Waters’sche Oevre zumindest lautmalerisch zu kopieren.
Ukrainekrieg: Provokateure benennen!
Als politisch und gesellschaftlich aktiver Künstler hat sich Roger Waters nicht nur immer wieder ins aktuelle Tagesgeschehen, sondern auch in internationale Konflikte eingemischt – so etwa auch in den Ukrainekrieg. In einem Interview mit der Berliner Zeitung (hier nur in der englischen Übersetzung, da Original hinter Bezahlschranke) richtet sich Waters explizit gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und erklärt dem verdutzten Fragesteller, diese nutzten hauptsächlichen der Rüstungsindustrie. Mit Blick auf die völkerrechtlichen Angriffskriege der USA in Vietnam oder den Irak wisse er nicht, ob Putin oder Biden der größere Gangster sei.
Angesprochen auf den von Putin befohlenen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine benennt Waters die Ziele der Operation, nämlich die Abwendung eines potenziellen Genozids an der russischsprachigen Bevölkerung in der Region Donbas sowie die Niederschlagung des (Neo-)Nazismus in der Ukraine. Speziell seit dem durch US-Kräfte unterstützten Maidan-Putsch sei die russischsprachige Minderheit vermehrten Angriffen durch rechtsgerichtete Milizen ausgesetzt.
Auf die (dümmliche) Frage, was ihn so sicher mache, dass Putin nicht noch weitergehe, kontert Waters mit der Feststellung, auch nicht sicher sein zu können, ob die USA nicht einen Atomkrieg mit China provozieren würden. Es sind die Provokationen des US-geführten Westens, die er für den russischen Einmarsch in die Ukraine mitverantwortlich macht und in denen er eine Bedrohung der Interessen der Völker Europas sieht.
Brainwashed
So bleibt die Frage, wie man denn zu einer anderen Einsicht kommen könne als zu jener, dernach Putin der alleinige Aggressor sei. Mit Blick auf das orchestrierte Vorgehen der westlichen Medienlandschaft spricht Waters von Gehirnwäsche. Jeder mit bloß einem halben Gehirn könne sehen, dass der Ukrainekonflikt Folge einer maßlosen Provokation sei. Es handele sich womöglich um die am stärksten provozierte Invasion überhaupt.
Sich eine Meinung abseits des massenmedial gestreuten Narrativs zu leisten, ruft selbst dann die Cancel-Culture auf den Plan, wenn es sich um einen Künstler vom Kaliber eines Rogers Waters handelt. Und so wurden im freien Westen nicht nur einige seiner Konzerte abgesagt, sondern der 79-Jährige von der polnischen Stadt Krakau gleich zur persona non grata erklärt. Freiheit ist eben doch nur die Freiheit der Machthaber.
Waters ließ sich von der Phalanx empörter Haltungswächter jedoch nicht einschüchtern und machte von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung in der Causa Ukraine nun erst recht Gebrauch. Auf Einladung Russlands sprach er per Videoschalte vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bezeichnete den russischen Einmarsch als illegal, betonte aber auch dort die massive Provokation durch den Westen – womit er sich klar auf der Faktenbasis der längerfristigen geopolitischen Interessen der USA bewegte. Als weiterer roter Faden zog sich Waters eigene biografische Erfahrung mit Kriegen durch seine Rede sowie sein Wunsch nach Frieden und Versöhnung.
Und so kam es, wie es kommen musste: Wer sich gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und für einen Waffenstillstand plus Verhandlungen ausspricht, wer die Hintergründe des Konflikts benennt und es darüber hinaus wagt, auch die Mitverantwortung und Interessen der USA anzusprechen, kann ja nichts anderes sein, als ein schäbiger Putin-Apologet. So ähnlich sah das außer einem Großteil der westlichen Medien auch die Frau von Waters‘ früherem Bandkollegen Gillmour, Polly Samson.
Die Stadt Frankfurt und das Land Hessen zeigen derweil mal wieder, wie wenig sie von einem offenen Diskurs und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung halten, indem sie Roger Waters mit einem Auftrittsverbot in der Frankfurter Festhalle belegen wollen. In Anlehnung an eine Zeile aus The Wall wird es dringend Zeit, nicht nur die Mauern der Spaltung und des Hasses niederzureißen (tear down the wall), sondern auch die der US-Propaganda – nicht wahr, Herr Kyslyzja (ukrainischer UN-Botschafter)…