Spurensuche Totalitarismus (II): Umgekehrter Totalitarismus (Wolin)

Die „Spurensuche“ im Titel ist insofern ein wenig irreführend, als totalitäre Strukturen in „westlichen Demokratien“ schon längst die Oberhand gewonnen haben. Demokratie ist zu einer rhetorischen Floskel verkommen, die lediglich einige fassadenhafte Praktiken wie Wahlen, Meinungsfreiheit oder Partizipation bezeichnet und der scheinbaren Legitimation hegemonialer Machtstrukturen dient.

Eine Floskel, die vor allem von denjenigen mantraartig vorgetragen wird, die an echter Demokratie kein Interesse haben und die tagtäglich die Ausbeutung und Kontrolle der Menschen im Dienste herrschender Machtinteressen betreiben.  Auch geht es um den Erhalt von Machtstrukturen, die sich als solche freilich jeder echten demokratischen Steuerung insbesondere durch oppositionelle Kräfte entziehen. 

Unter dem sedierenden Deckmantel des Demokratischen entfalten korporative Machteliten aus Staat und Großkapital ausgefeilte Herrschafts- und Kontrolltechniken, die der effektiven Entpolitisierung und Steuerung der Bevölkerung dienen und damit Sicherung und Ausbau ökonomischer und politischer Machtstrukturen gewährleisten. 

Es handelt sich um eine kapitalistischen Systemen innewohnende Entwicklungstendenz, die seit der Coronakrise und dem Ukrainekonflikt einen gewaltigen Schub erfahren hat. Ihr Ziel ist weitestgehend entgrenzte Machtausübung, umfassende Kontrolle über jeden gesellschaftlichen Aspekt und die Neutralisierung jeglicher Form relevanter Opposition. Es ist das Gegenteil von Demokratie, das auf ihren Ruinen und unter ihrem Namen aufgebaut wird. 

Democracy Incorporated – eingebettete Demokratie

Der US-amerikanische Politologe Sheldon S. Wolin hat mit seinem 2008 erschienen Spätwerk „Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie“ die Entwicklung eines neuartigen totalitären Systems in den USA beschrieben. Der Originaltitel des Werkes „Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarism“ deutet bereits darauf hin, dass Wolin die Qualität der Demokratie in den USA als unzureichend bewertet. 

Mehr noch, sie ist für ihn lediglich eine Fassade, die der Entpolitisierung und Ruhigstellung der „Schattenbürger“ im Kontext des fortschreitenden Machtausbaus eines Corporate State aus politisch-administrativem System und Großkonzernen dient. Demokratie wird von diesem Geflecht aus transnationalen Konzernen und Exekutivapparaten umrahmt und in derartiger Weise eingebettet, dass ihre verbleibenden Normen und Verfahren den machtpolitischen Interessen des sie umgebenden Systems von Nutzen sind oder diese zumindest nicht nennenswert stören. 

Demokratische Normen und Praktiken, die Verfassung, freie Medien, Rechtsstaat, Parteien oder Gewaltenteilung – das alles verkommt in Wolins Analyse zu einer bloßen Fassade, hinter der sich ein immer schwerer fass- und kontrollierbarer Machtapparat ausbreitet, der sich aus einem symbiotischen Konglomerat aus staatlichen und ökonomischen Akteuren gebildet hat. Demokratie besteht nur noch aus inhaltlich wie strukturell entleerten Verfahren und Institutionen, deren demokratische Funktionalität lediglich nominellen Charakter hat und mehr Mythos denn Realität ist.   

So sehr man auch berechtigt ist Bush und sein Gefolge zu beschuldigen [gemeint ist der Einmarsch in den Irak; FS], muss man auch die Schuld, die Komplizenschaft und die Apathie der Bürger einbeziehen. Und das bringt uns zurück zu der Frage, inwieweit das demokratische Ideal geteilter Macht, bürgerlichen Engagements und des Egalitarismus in der amerikanischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt verankert ist. Beschreibt ‚Demokratie‘ wirklich unsere Politik und unser politisches System, oder handelt es sich nur um eine zynische Geste, mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll?“ (S. 355).

Wolin hat sein Spätwerk im stolzen Alter von 85 Jahren während der Amtszeit von George W. Bush verfasst und nimmt vielerorts Bezug auf die innen- und außenpolitischen Entwicklungen nach den Terroranschlägen von 9/11. Rainer Mausfeld bejaht in seiner umfangreichen Einführung die Frage nach Aktualität und Übertragbarkeit auf hiesige politische Verhältnisse, da die BRD fest in das hegemoniale System der USA eingebunden und totalisierende Entwicklungen insbesondere im Coronaregime zu beobachten gewesen seien. Vor allem die Medien erkennt Mausfeld als totalisierenden Faktor, die einen wichtigen Beitrag zur ideologischen Homogenisierung leisteten und im aktuellen Ukrainekrieg sogar zu eigenständigen Akteuren im Kriegsgeschehen avanciert seien.     

Sanfter Totalitarismus ohne Diktatur

Der Feststellung eines totalitären Systems oder totalitärer Strukturen mag vielerorts auf Unverständnis stoßen, sobald Regierungs- und Gesellschaftssysteme demokratisch verfasster Staaten angesprochen sind. Häufig kommt es zum reflexartig vorgetragenen Vorwurf des unzulässigen Vergleichs mit Nationalsozialismus, Stalinismus oder Faschismus, da man sich unter Totalitarismen landläufig brutale Unrechtsregimes mit umfassender Kontrolle, Gewaltherrschaft und nicht vorhandener Rechtsstaatlichkeit vorstellt, was jedoch nur Merkmale klassischer Totalitarismen sind.  

Tatsächlich kommen totalitäre Systeme in hochentwickelten Industriestaaten als umfangreiche Ensembles ausgefeilter Herrschaftstechniken nicht nur weitgehend ohne die Anwendung physischer Gewalt und ideologischer Unterdrückung aus, sondern sind mit ihren subtilen und weitreichenden Steuerungsmethoden hocheffizient. Sie fußen nicht auf der persönlichen Machtentfaltung eines politischen Führers, sondern erscheinen in Form eines abstrakten Systems, das nach anonymer und umfassender Totalität strebt.

Im umgekehrten Totalitarismus vereinen sich Konzern- und Staatsmacht zu einer symbiotischen Struktur, die sich der Demokratie überstülpt und sie soweit aushöhlen und umformen kann, dass sie in die interessenpolitisch gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Ein abrupter Regimewechsel ist weder erkennbar noch nötig, denn die Transformation des politisch-gesellschaftlichen Systems erfolgt in einem evolutionären Prozess, der alle Gesellschaftsbereiche, zivilgesellschaftlichen Institutionen und Staatsapparate (repressive wie ideologische nach Althusser) einem Adaptionsdruck unterwirft. 

Wolin dazu: „Im Unterschied dazu [den klassischen totalitären Regimen; FS] entstand der umgekehrte Totalitarismus unmerklich, unbeabsichtigt und in scheinbar ungebrochener Kontinuität zu den politischen Traditionen der Nation. In unserem Sinne liegt eine Umkehrung dann vor, wenn scheinbar unverbundene, ja sogar disparate Ausgangspunkte konvergieren und sich gegenseitig verstärken.“ (S. 121)

Dieses neue totalitäre System, das sein wahres Wesen verleugnet und „vorgibt, das Gegenteil dessen zu sein, was es in Wahrheit ist“ (ebd.), entsteht auch als Resultat einer Vielzahl im Hinblick auf ihre Folgen undurchdachter und unbekümmerter (interessengebundener) Einzelentscheidungen, die in ihrer Summe dazu führen können, eine verfassungsmäßige Ordnung nachhaltig auszuhöhlen.

Das machtpolitisch angestrebte Ziel – und darin gleicht der umkehrte Totalitarismus seinen klassischen Varianten – ist die Durchdringung der gesamten Gesellschaft bis hinein in die privatesten Lebensvollzüge, was zuletzt am Coronaregime mit seinem Hineinwirken in elementare Grundrechte bis hin zur Menschenwürde und körperlichen Unversehrtheit erschreckend deutlich zu erkennen war. Dies geschieht auch infolge der Rationalisierung aller Lebensvollzüge, die einer Berechenbarkeit und Kosteneffizienz unterworfen werden, was wiederum ein Hinweis auf den Beitrag des Neoliberalismus auf totalisierende Transformationen ist.

Dabei ist der umgekehrte Totalitarismus im Unterschied zur klassischen Variante kein Produkt eines Führers, sondern seine Eliten selbst sind Produkte des Systems. Wolin formuliert es am Beispiel von George W. Bush so: „Er ist ein willfähriges Ziehkind von Privilegien, von Unternehmensverbindungen, ein Konstrukt von PR-Assistenten und Parteipropagandisten.“ (S. 119)  Mehr noch, die Implementierung totaler Herrschaft vollzieht sich geradezu geräuschlos und unbemerkt von den Beherrschten gewissermaßen in Form einer systemischen Transformation von Sinn: „Seine [des totalisierenden Systems; FS] Genialität liegt darin, totale Macht auszuüben – ohne dabei den Anschein zu erwecken, dies zu tun, ohne Konzentrationslager einzurichten, ohne ideologische Einheitlichkeit zu erzwingen oder Andersdenkende zu unterdrücken, solange sie wirkungslos bleiben.“ (S. 134)

Die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus

Nach Wolin liegen die Ursprünge des umgekehrten Totalismus im liberalistischen Kapitalismus und entstammen dessen Funktionslogik. „Im ‚umgekehrten Totalitarismus‘ finalisiert sich gleichsam der kapitalistische Liberalismus, in ihm enthüllt die liberale kapitalistische Demokratie ihren eigentlichen Wesenskern“, so Rainer Mausfeld in der Einführung (S. 29). Es ist das Vermächtnis des Liberalismus, atomisierte und entpolitisierte Individuen geschaffen zu haben, die in der Optimierung ihrer jeweiligen Kosten-Nutzen-Kalkulation nur noch als freie Konsumenten im Rahmen einer Marktsituation aufeinandertreffen. Wenn sich das Wesen einer Demokratie überwiegend auf die konsumistischen Freiheiten ihrer Subjekte reduziert, verkommt politische Partizipation zur Auswahl marktförmiger Konsumartikel. 

Ein Umstand, auf den bereits Herbert Marcuse im Jahre 1964 in seiner Kritik am fortgeschrittenen Industriekapitalismus hingewiesen hat: „Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation.“ (2005, S. 22)  Und weiter über einen der fortgeschritten Industriegesellschaft angepassten emanzipatorischen Freiheitsbegriff: „So würde ökonomische Freiheit Freiheit von der Wirtschaft bedeuten – von Kontrolle durch ökonomische Kräfte und Verhältnisse, Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein, davon, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das jetzt durch Massenkommunikation und -schulung aufgesogen wird, die Abschaffung der ‚öffentlichen Meinung‘ mitsamt ihren Herstellern. Der unrealistische Klang dieser Behauptungen deutet nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen.“ (aaO. 24, Hervorh. im Original). 

Erstaunlich, wie sehr die Stoßrichtung Marcuses jener Wolins gleicht. 

Die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus hat eine weitere Ursache in ihren antagonistischen Funktionsprinzipien: „Die Demokratie beruht auf dem Gleichheitsprinzip bei der Vergesellschaftung von Macht. Der Kapitalismus hingegen beruht in seinen Funktionsprinzipien gerade auf der Ungleichheit des Eigentums an Produktionsmitteln.“, so Rainer Mausfeld in der Einführung (S. 25).  Die Konsequenzen daraus sind wohlbekannt. So führt das sehr ungleich verteilte Eigentum an Produktionsmitteln zur Notwendigkeit der Lohnarbeit für all jene, die über keine Produktionsmittel verfügen – und damit auch zu deren Unterwerfung unter die kapitalistischen Machtverhältnisse. Auch haben Eigentümer von Produktionsmitteln seit jeher die besseren Zugangsmöglichen zu administrativen Entscheidungsstrukturen und können ihre Interessen so viel effektiver in die politische Willensbildung einfließen lassen, als ökonomisch benachteiligte Akteure.     

Schließlich leistete der globale Erfolg des marktfundamentalistischen Neoliberalismus seit den 1990er Jahren einen wichtigen Beitrag für einen weiteren Schub totalisierender Entwicklungen, indem immer weitere Bereiche des Lebensvollzugs einer allumfassenden Marktlogik unterworfen wurden, was gleichzeitig massenmedial in den Köpfen der Menschen verankert wurde.  

Massenmanipulation und -kontrolle

Ausgangspunkt totalisierender Entwicklungen ist immer eine Massengesellschaft, deren technologischer Entwicklungsstand eine mehr oder weniger vollständige Durchdringung der Bevölkerung mit einem bidirektionalen Informationsfluss zulässt: Inhalte müssen mit millionenfacher Reichweite gesellschaftsweit verbreitet werden können, während gleichzeitig eine Rückübermittlung von Daten aus der Bevölkerung zwecks Evaluation und Kontrolle an die Machteliten möglich sein muss. Das trifft auf klassische Totalitarismen in ähnlicher Weise zu, wie auf den umgekehrten Totalitarismus. 

Wichtig ist also ein ausgefeiltes und bis in alle Lebensbereiche hineinreichendes Indoktrinations- und Manipulationssystem, das zur Entpolitisierung der Bürger beiträgt und sie als Konsumenten und Wähler („Wähler-Konsumenten“) berechenbar macht. Im Unterschied zu traditionellen Totalitarismen mit aufwändiger Massenmobilisierung für ein konkretes Ziel bedient sich der umgekehrte Totalitarismus subtilerer Techniken des Meinungsmanagements, die über die Kanäle der Nachrichten-, Unterhaltungs- und PR-Industrie an ihre Adressaten gelangen. Die Medien werden also in das totalisierende System „eingebettet“ (Wolin), um Bürger auf Distanz zu halten und geführte Kriege oder die Austragung anderer Konflikte in angenehm konsumierbarer Form kommunizierbar zu machen.    

Mausfeld stellt im Vorwort treffend fest, dass sich heutige Medien nicht mehr nur als „eingebettete Medien“ verstehen, sondern als eigenständige Akteure im politischen Geschehen begreifen: „In der Corona-Krise, die vielfach von einer Kriegsmetapher begleitet wird und somit die Rechtfertigung eines Ausnahmezustands gleichsam automatisch in sich trägt, sind auch die großen Medien im Kriegsmodus und haben den Raum des Politischen noch weiter zerstört, indem sie ihn auf die jeweiligen Regierungspositionen verengt haben.“ (S. 42).  

Im Zentrum des Meinungsmanagements stehen dabei private Medien, die als mono- oder oligopolisierte Konglomerate bei der Durchsetzung einer vereinheitlichen Meinung effizient helfen. Ihre Aufgabe ist die ideologische Homogenisierung und Einengung des Debattenraums sowie die (relative) politische Demobilisierung der Bürger. Dabei hilft, dass innerhalb der verengten Meinungskorridore sogar noch lebhafter Widerstreit zugelassen sein kann, der die ideologisch gesetzten Grenzen jedoch keinesfalls überschreiten darf. In der Folge entsteht die Illusion einer demokratischen Meinungsbildung, die tatsächlich nur im eng gesteckten Rahmen dessen stattfinden darf, was als Opposition den Interessen der Machteliten nicht gefährlich werden kann. 

Die Einengung des Debattenraums vollzieht sich dabei subtil und ist für einen Großteil der Bürger nicht oder nur kaum wahrnehmbar, was sich wiederum blockierend auf die Bildung transzendierender politischer Einstellungen und rationaler Überzeugungen auswirkt. Die herrschende Ideologie verbirgt sich indes hinter der Fassade eines (mystifizierten) Optimums an Rationalität (oder – wie im Falle des Coronaregimes – wissenschaftlicher Objektivität und technokratischem Steuerungsglauben) und diskreditiert dissidente Überzeugungen als irrational (Verschwörungstheorie, Geschwurbel, Althut-Träger etc.).

Das totalisierende System versteht es zudem, eine „eigene loyale Intelligenzija“ zu kultivieren (S. 147), die der Integration kritischer Geister in sein Gefüge dient, was zum einen die Auftrittswahrscheinlichkeit einer gefährliche Opposition minimiert und zum anderen eine adressatenorientierte Verhaltenssteuerung auf dem Wege des Lernens am Modell und / oder durch positive Anreize begünstigt (auch hier ist die Coronakrise reich an Beispielen, aber auch die universitäre Forschung mit ihrer Drittmittelabhängigkeit stellt ein derartiges Anreizsystem dar).  

Die „Supermacht“ in der totalisierenden Entwicklungsdynamik

Wie bereits erwähnt, lag Wolins Fokus auf den politischen Entwicklungen in den USA, die sich in vielen Bereichen auf europäische „Vasallenstaaten“ im ideologischen, kulturellen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu den USA übertragen lässt. Totalisierende Entwicklungen vollziehen sich in den Satellitenstaaten gewissermaßen als Folge jener des hegemonialen Zentrums und werden auf den unterschiedlichen Kanälen der politischen und kulturellen Kommunikation entlang des bestehenden Machtgefälles übertragen. 

Kennzeichnend für die USA war nach Wolin ein ausgeprägter Imperialismus mit langer Tradition, der dem Land nach dem „siegreich“ ausgefochtenen Kampf gegen den Kommunismus im Kalten Krieg den Status einer Supermacht bescherte. Nach dem Wegfall des alten Gegners nahm der Kampf gegen den internationalen Terrorismus dessen Platz ein und avancierte nicht nur zu einer Rechtfertigung für einen weiteren Expansionismus in den Außenbeziehungen, sondern auch für ausgeweitete Kontroll- und Repressionsinstrumente im Inneren (auch letzteres wurde erfolgreich in die Vasallenstaaten „exportiert“). Zum Ausbau der Herrschaftsinstrumente im Inneren zählte im Sinne einer „Ökonomie der Angst“ eine spezielle Charakterisierung des Feindes, die eine abstrakte, kaum greifbare und diffuse Bedrohungslage schaffen konnte und die Menschen in ihren alltäglichen Lebensvollzügen einer schwer kalkulierbaren Gefährdungswahrnehmung aussetzte: „Der dem Terrorismus zugeschriebene Charakter wird also in eine Atmosphäre der Ungewissheit hineinprojiziert. Wobei deren Wirkung darin besteht, eine gewisse Urangst vor der Fragilität jedes alltäglich gelebten Augenblicks zu erwecken, sodass selbst noch die selbstverständlichsten Routinen in ein Gefühl der Unsicherheit getaucht werden.“ (S.150 f.). Die Coronakrise lässt grüßen. 

In den Internationalen Beziehungen äußert sich der US-Imperialismus in erster Linie in Form von militärischer Präsenz und Machtausübung in Kombination mit der Option zum Präventivschlag. Diese als Bush-Doktrin bekanntgewordene Anmaßung war Kern der am 20. September 2002 dem Kongress vorgelegten Nationalen Sicherheitsstrategie, die vor dem Hintergrund der globalen Anti-Terror-Kampagne eine Betonung unilateraler Aktionen (oder unilateral initiierter Aktionen im Verbund mit Alliierten) kennzeichnete. Allerdings stellt auch die Bush-Doktrin kein Novum in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik dar, sondern fügt sich in deren historische Kontinuität mit einer Schwerpunktverlagerung auf militärische Interventionen ein.   

Das imperiale Streben nach dem Erhalt des Supermacht-Status ist auch an den unzähligen Militärbasen abzulesen, die die USA rund um den Globus betreiben und mit denen sie ihre geostrategischen Interessen absichern und untermauern. So dient etwa die US-Militärbasis in Ramstein als Koordinationsstelle der militärischen Aktivitäten der USA und ihrer NATO-Verbündeten im Ukrainekrieg – einem von langer Hand geplanten geostrategischen Projekt der USA zur Sicherung ihres Einflusses im eurasischen Raum. Die zahllosen Einrichtungen, Ressourcen und Bestrebungen der USA zur weltweiten Realisierung ihrer ökonomischen und politischen Interessen, zur Schaffung von Einflusszonen und dem Ausbau ihrer Dominanz füllen Schrankwände voller Bücher. 

Am Streben der USA nach globaler Hegemonie hat sich auch 2022 nichts geändert, wie der Blick in die Nationale Sicherheitsstrategie der Biden-Administration zeigt.

Abschließend soll noch einmal Herbert Marcuse zu Wort kommen. Auch wenn zu Sheldon S. Wolins Ansatz noch sehr viel zu sagen wäre, erstaunt die die inhaltliche Nähe Marcuses, die sich – trotz unterschiedlichem Fokus – in der Vorwegnahme einiger Grundgedanken bereits im Jahre 1964 zeigt:

Infolge der Art, wie sie ihre technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige Industriegesellschaft zum Totalitären. Denn ‚totalitär‘ ist nicht nur die terroristische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. Sie beugt so dem Aufkommen einer wirklichen Opposition gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem ‚Pluralismus‘ von Parteien, Zeitungen, ‚ausgleichenden Mächten‘ etc. durchaus verträgt.“ (S. 23)

Literatur:

Sheldon S. Wolin (2022): Umgekehrter Totalitarismus Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld. Frankfurt am Main. 

Herbert Marcuse (2005): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 5. Aufl., München.

Weitere Infos:

Ulrich Teusch: „Umgekehrter Totalitarismus“ – Sheldon Wolins provozierendes Alterswerk (Multipolar)