Alles sensorische Weicheier

Wer mag, kann im Netz unzählige Videos sogenannter Mutproben finden, in denen unerschrockene Helden den schwedischen Surströmming verkosten und gleich nach dem Öffnen der Dosen zu Boden gehen, sich übergeben oder sonstwelche physischen Ausfallserscheinungen erleiden. Alles Show oder Selbsterfüllende Prophezeiungen, denn der in Dosen vergorene Hering ist durchaus genießbar. Und auch der Geruch hält sich in gut aushaltbaren Grenzen, er liegt in Sachen Intensität knapp oberhalb jenem von gut abgehangenem Handkäse. Die Show mit viel Gespucke, Geschrei und inszeniertem Ekel entlarvt also eher die sensorischen Weicheier unter den Freunden fremdländischer Spezialitäten.

Was in Schweden in nahezu jedem Supermarkt zu finden ist, muss hierzulande leider zu horrenden Kursen bestellt werden. Um so schlimmer, wenn die Delikatesse dann nur für pubertären Schabernack herhalten muss und am Ende gar im Mülleimer landet. Tatsächlich lässt sich Surströmming nämlich ganz gut verspeisen, idealerweise in der auch in Schweden üblichen Kombination mit Knäckebrot, Salzkratoffeln, Sauerrrahm und Zwiebeln.

Fast ein Jahr Kühlschrankruhe…

…haben unseren Surströmming wohl nur besser gemacht. Irgendwann im letzten Jahr bestellt, lagerten die Dosen der Traditionsmarke Röda Ulven in der Küche vor sich hin, bis sie irgendwann, unbeachtet in der hintersten Ecke eines Faches im Kühlschrank in Vergessenheit gerieten. Eines Tages aber war es soweit: übernächtigte Augen erblickten mehr aus Versehen beim Herumwühlen zwischen Jahre alten Essensresten und mumifizierten Fleischlappen die beiden formschönen Dosen. Die ideale Speise für einen lauen Sommertag im Garten.

Eine Dose wurde aufgrund der gut sichtbaren Wölbung mit äußerster Vorsicht entnommen und in einer explosionsfesten Fahrradtasche in den Schrebergarten transportiert. Gewählt wurden die Fileer, also die bereits ausgenommenen und filetierten Heringe, die sich einfacher verkosten lassen. Die Dose mit den ganzen Fischen, also denen, die man vor dem Essen noch irgendwie bearbeiten muss, dürfte wohl erst im kommenden Sommer geöffnet werden und erinnert bereits jetzt an eine hochschwangere Frau.

Lecker, aber gewöhnungsbedürftig

Einem handelsüblichen Dosenöffner wurde die Ehre zuteil, den Surströmming aus dem Blechgefängnis zu befreien. Das geschah natürlich nicht unter Wasser, sondern an der frischen Luft. Nur Weicheier brauchen dafür einen Eimer. Und so presste der Überdruck auch gleich einen ersten Strahl aromatischer Lake ins Gesicht des Kulinarikhelden. Aber siehe da, das war gut auszuhalten. Einmal beherzt mit der Handfläche über die Wangen gewischt, weg war die Soße. Einen Ausschlag gab es nicht.

Auch der berüchtigte Gestank wurde weitgehend vermisst. Das olfaktorische Erlebnis war vergleichbar mit gut ausgereiften Käsesorten, für degenerierte Weicheier möglicherweise unerträglich, für den Connaisseur eher speichelanregend. Auf selbstgemachten Fladenbroten mit Kartoffeln, Sauerrahm und Zwiebeln machten die Fischlein keine schlechte Figur. Der Geschmack erinnert entfernt an den von Sardellen oder Anchovis, nur leider eben ohne deren typische Finesse. Der nordische Dosenfisch kommt eher nach Art des Holzhammers daher und benötigt seine Mitspieler auf dem Teller vor allem zur Abdämpfung seiner geschmacklichen Wucht.

Eine interessante Erfahrung also, der fermentierte Fisch. Durchaus lecker, aber leider ohne das Zeug zum Wiederholungsessen.

Surströmming Fileer, geöffnet
Auf selbstgemachtem Fladenbrot angerichtet
Serviervorschlag