Die Verkrüppelung des Rechtsstaats (I): Der Einstieg in den Verfassungsbruch
Die Coronakrise war gekennzeichnet von den schwersten Eingriffen in Grundrechte und demokratische Verfahren seit Bestehen der Bundesrepublik. Nie zuvor wurde ein zeitlich nahezu unbegrenzter Ausnahmezustand ausgerufen, der den grundgesetzlichen Anforderungen an das Notstandsrecht diametral zuwiderlief. Die Verfassung war von Anfang an die große Verliererin der Corona-Krise. Nie zuvor wurde ihr seitens sämtlicher Staatsorgane, allen voran der Exekutive, den Bundes- und Landesbehörden sowie den kommunalen Verwaltungen eine derart schwerer Schaden zugefügt – und das praktisch ohne jedwede juristische Konsequenz.
Im Gegenteil: In seinem skandalösen Grundsatzurteil zur Bundesnotbremse akzeptierte das Bundesverfassungsgericht unter seinem Präsidenten Stephan Harbath – einem unter Angela Merkel installierten CDU-Parteifunktionär und Unternehmens-Lobbyisten— die massiven Grundrechtseingriffe, hielt sich weitestgehend aus der Pandemiepolitik heraus und erteilte dem Gesetzgeber de facto einen Freibrief.
Verfassungsrechtlicher Sündenfall
Seit dem 25.03.2020 hat sich der Verfassungsbruch als probate Methode des Regierungs- und Verwaltungshandelns etabliert, womit sich die Bundesrepublik von einem nationalen Wettbewerbsstaat mit sich transformierender Demokratie (Hirsch 1995: 136 ff.) sukzessive in ein System zu wandeln begann, das zunehmend totalitäre Züge aufweist (Diese Einschätzung wird zurzeit von vielen kritischen Autoren geteilt, exemplarisch genannt seien hier noch einmal die Arbeiten des belgischen Psychologen Matias Desmet; FS).
Die Bedenken seitens kritischer Verfassungsrechtler waren nach der eiligen Verabschiedung des „Gesetz[es] zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durchaus zahlreich und laut. So sprach der Verfassungsrechtler Christoph Möllers nicht nur vom Leben in einem „quasi grundrechtsfreien Zustand“, sondern auch von einer „parlamentarischen Selbstentmächtigung“ (eigene Hervorh.) – in Anspielung an den Begriff der Ermächtigung und zur Verdeutlichung der Selbstaufgabe des Bundestages. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier erkannte eine „Außerkraftsetzung von Freiheitsrechten zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates“ (siehe auch hier), während der Kirchen- und Verfassungsrechtler Hans-Michael Heinig die Bedrohung durch einen „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ aufziehen sah. Kritische, besorgte und entsetzte Stimmen aus den Reihen juristischer Experten waren in den Wochen nach der Verabschiedung des Gesetztes vielerorts zu vernehmen, konnten den gestarteten Autopiloten des Staatsapparats jedoch nicht mehr von seinem potenziell totalitären Kurs abbringen.
Es ist nicht bekannt, ob den Abgeordneten des Deutschen Bundestages am Morgen des 25.03.2020 bereits bewusst war, dass sie ihr legislatives Verfassungsorgan noch am selben Tag radikal schwächen und der innerhalb der Checks and Balances ohnehin bereits übermächtigen Exekutive förmlich zu Füßen legen würden. Man hatte es jedenfalls sehr eilig und war bemüht, diesen „Beginn eines Paradigmenwechsels in der bundesdeutschen Rechtsetzungsgesichte“ (Christ 2022: 116) an einem einzigen Tag durch den parlamentarischen Prozess zu jagen. Drei Beratungen hintereinander, keine Ausschussarbeit, keine fachliche Vertiefung der brisanten Materie in Arbeitsgruppen – die Fraktionsdisziplin verlangte das rekordverdächtig rasche Durchwinken. Es kam, wie es kommen musste: Der Gesetzesentwurf wurde mit den Stimmen der Großen Koalition von CDU, SPD und Grünen angenommen, die Abgeordneten der Linken und der AfD enthielten sich. Am selben Abend noch unterschrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das druckfrische Gesetz ohne einen Moment des Zögerns, die Zustimmung des Bundesrates erfolgte nur zwei Tage später.
Massenmediale Angstkommunikation als Hintergrundvariable
Die rechtliche Basis für den Dauer-Ausnahmezustand wurde also im Rekordtempo beschlossen, was mit ein Grund für seine verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit sein könnte. Denkbar ist ebenso eine übermütige Aufbruch- oder Endzeitstimmung auf Seiten der Autoren des Gesetzentwurfes 19/18111 aus den Fraktionen der CDU/CSU und SPD infolge der massenmedial kommunizierten Zuspitzung der pandemischen Ereignisse im Vorfeld des parlamentarischen Prozesses.
Die von China aus über Europa einbrechende Pandemie fand zunächst vor allem in den Mainstream-Medien statt, die ganz im Sinne des innenministeriellen Strategiepapiers vom Februar/März 2020 („Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“) den Pfad der maximalen Angstkommunikation eingeschlagen hatten.
Die zur psychologisch hochwirksamen Visualisierung der Krise passenden Bilder lieferte ein Fotograf aus dem italienischen Bergamo. Dem Mythos zufolge befand er sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte auch noch eine Kamera dabei, mit der er einen mit Särgen beladenen morgendlichen Militärkonvoi ablichtete. Sein Foto avancierte zum Symbolbild für die tödliche Gefährlichkeit des C-Virus, was freilich nur unter geschickter Auslassung der tatsächlichen Hintergründe dieses unheimlichen Transports geschehen konnte. Es trägt bis heute zur mentalen Konstruktion der Corona-Pandemie bei.
Die Pandemie jedenfalls wurde zum politisch passenden Zeitpunkt mit den passenden Bildern unterlegt, was Zufall hatte sein können oder auch nicht. Am 10. März erklärte die italienische Regierung das komplette Land zur Sperrzone, was man in dieser Rigidität eher in extremistischen Militärdiktaturen verortet hätte, keinesfalls aber einem demokratischen Staat westlicher Provenienz. Trotzdem zog das übrige Europa fast weitgehend nach, was die Selbstdarstellung der „wertegeleiteten freiheitlichen Demokratien Westeuropas“ endgültig als falsch entlarvte.
Ausnahmezustand als Regel
Zurück nach Deutschland. Am 14. März legte der Senat der Stadt Berlin per einfacher Verfügung neben dem öffentlichen Leben der Stadt auch elementare Grundrechte ihrer Bürger lahm. Am 19. März eröffnete die Tagesschau ihre Sendung mit den traumatisierenden Bildern aus Bergamo und bereitete ihre 16 Millionen Zuschauer damit emotional nicht nur auf den Gesetzesentwurf vor, der am folgen Tag im Parlament beschlossen werden sollte, sondern auch auf den damit zu legenden Grundstein für die radikalste Suspendierung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der bundesrepublikanischen Geschichte.
Der Zeitpunkt für den gesetzgeberischen Paradigmenwechsel war überaus günstig für das politisch-administrative System, denn angesichts einer durch das koordinierte Mediensystem rund um die Uhr und mit allen manipulativen Tricks kommunizierten apokalyptischen Bedrohung, bedeutete die Schockstarre innerhalb weiter Kreise der Bevölkerung auch eine anfängliche Entpolitisierung in Bezug auf verfassungsrechtliche und demokratietheoretische Diskussionen. Eine Entpolitisierung, die unter dem massenmedialen Dauerfeuer von Regierungsnarrativen später in eine Entdemokratisierung und Radikalisierung großer Teile der Zivilgesellschaft umschlug („Extremismus der Mitte“).
So schnell der Gesetzentwurf abgenickt wurde, so viele Schwachstellen hatte er auch. Ihm zugrunde lag das Verständnis einer Krise als Naturkatastrophe, die nur gemeinschaftlich zu lösen sei, wobei dem Einzelnen Befugnis und Kompetenz zu eigenverantwortlichem Handeln geradezu abgesprochen wurden – gewissermaßen als Einstig in den staatlichen Paternalismus gepaart mit einer erneuten Umdeutung des Solidaritätsbegriffs¹.
Durch die Regelungen zur epidemischen Notlage von nationaler Tragweite wurde ein Notverordnungsrecht geschaffen, das dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sehr weitreichende Befugnisse bis hin zu schweren Grundrechtseingriffen einräumte. So kann das BMG auf dem Wege der Rechtsverordnung und ohne Zustimmung des Bundesrats in nahezu alle Gesetze des öffentlichen Gesundheitswesens eingreifen.
Es wurde die Möglichkeit eines zeitlich kaum begrenzten und durch die Legislative kaum mehr kontrollierbaren Ausnahmezustandes geschaffen, was die vom Grundgesetz intendierte Leitidee des Notstandsrechts in fundamentaler Weise konterkarierte. Eine Leitidee, die fordert, dass ein Ausnahmezustand einzig der schnellstmöglichen Wiederherstellung der durch eine außerordentliche Notlage gestörten verfassungsmäßigen Ordnung dienen darf. Die Änderung des §5 IfSG widersprach dieser Forderung, und „räumt dem BMG für den Fall einer epidemischen Notlage von nationaler Tragweite Befugnisse ein, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Es schafft insbesondere ein Notverordnungsrecht, das die Kompetenzen im gewaltenteiligen Gefüge des Grundgesetzes verschiebt und der inhaltlichen Kontrolle und Gestaltung durch den Bundestag entzieht“, so Verfassungsrechtler Thomas Mayen in seinem Aufsatz „Coronakrise: Der verordnete Ausnahmezustand“.
Vorlage für die Missachtung des Grundgesetzes
Dass das ohnehin fragwürdige Gesetz nicht einmal dem Bestimmtheitsgebot gerecht wurde, machte den hastigen Einstieg in die Pandemiegesetzgebung nicht besser. Die Aktivierung einer ganzen Batterie an Exekutivbefugnissen beim BGM war lediglich an die Feststellung einer außergewöhnlichen Notlage – etwa der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite – gekoppelt, ohne jedoch konkrete Voraussetzungen für eine derartige Feststellung zu benennen. Es fehlte also die hinreichend klare Formulierung zur Benennung der Eingriffsschwelle staatlichen Handelns, ohne die nicht nur der staatlichen Willkür Tür und Tor geöffnet ist, sondern die Macht des Staatsapparats keine verlässliche Begrenzung mehr erfährt.
Kurz gesagt, das Bevölkerungsschutzgesetz war aus verfassungsrechtlicher Sicht kompletter Murks. Ob der Murks Methode hatte, steht indes auf einem anderen Blatt. Erinnert sei an dieser Stelle an die vielen internationalen Planspiele zur Simulation von Pandemien oder Angriffen mit Biowaffen, in denen auch das koordinierte Vorgehen von Regierungen, Medien und Pharmakonzernen geübt wurde. Das bisher letzte Planspiel dieser Art hörte auf Namen Event 201 und simulierte im Jahre 2019 den Ausbruch eines neuartigen Coronavirus – nur wenige Monate vor dem Start der Coronapandemie in der wirklichen Welt. Zu den Empfehlungen nach Abschluss der Aktion zählten etwa die engere Zusammenarbeit zwischen Konzernen und Regierungen, der Abbau von Regulationen bei der Impfstoffentwicklung und die Änderung des Verhaltens der Bevölkerung durch Anreize (Nudging; FS) und Information (Propaganda; FS) (vgl. Schreyer 2020: 93ff). Gut möglich, dass in den Schubladen des Regierungskabinetts bereits Vorlagen für den pandemischen Ernstfall zu finden waren, die den Empfehlungen dieser Planspiele zumindest in grober Weise Rechnung trugen.
Unbestritten startete der Bundesgesetzgeber in einer Weise in die Pandemie, die zahlreichen Verfassungsgrundsätzen zuwiderlief, aber dennoch den Weg für Landesgesetzgeber und nachgeordnete Behörden vorzeichnete. „In der Folgezeit hatte es Methode, das Grundgesetz auszuhebeln, der ‚Lerneffekt‘ aus dem ersten Gesetz zur epidemischen Notlage konnte ja nur sein, dass Verfassungswidrigkeiten von der breiten Öffentlichkeit fast ausnahmslos achselzuckend hingenommen wurden“, so der Rechtsanwalt und Autor Alexander Christ (2022: 130). Der gesetzgeberische Modus der Exekutiven in Bund und Ländern war somit vorgezeichnet und sollte im Laufe der Corona-Krise auch nicht verlassen werden. Die Abkehr von der Verfassung war besiegelt.
¹ Solidarität (obligato in solidem – „einer für alle, alle für einen“) bezeichnet ursprünglich ein symmetrisches Verhältnis zwischen solidarisch Handelnden, das auf der aktiven Verbundenheit aller Gemeinschaftsmitglieder basiert. Diese Form der Verpflichtung ist reziprok, Vertrauen beruht auf Wechselseitigkeit. Die in der Coronapolitik beschworene Solidarität kennzeichnet dagegen ein asymmetrisches und nicht-reziprokes Verhältnis der Handelnden, das hierarchisch über die Kooperation hinausgeht und im Grunde ein Gehorsamsverhältnis gegenüber einer staatlichen Autorität darstellt.
Alexander Christ: Coronastaat. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht. München, 2022.
Joachim Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Berlin, Amsterdam, 1995.
Paul Schreyer: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte. Frankfurt am Main, 2020.