Apathische Gesellschaft

Marli verkommt. Der Bezirk im Lübecker Stadtteil St. Gertrud ändert seinen Charakter. Dies geschieht schleichend und ist an scheinbaren Kleinigkeiten erkennbar. Vor den Wohnblöcken häufen sich herrenlose Einkaufswagen, manchmal bilden sie ganze Gruppen. Auf Bürgersteigen sammelt sich der Müll, auch nimmt Elektroschrott in Gestalt von E-Rollern zu. Häufig stehen sie mitten auf Geh- und Radwegen, werden zu gefährlichen Stolperfallen.

Ghettocharme

Die gefühlt überall herumstehenden Einkaufswagen verleihen Marli den Charme eines Gehttos mit limitierter Lebensqualität, in optischer Hinsicht ein Quartier für Verlierer, Abgedrängte, Benachteiligte und Menschen, denen immer mehr egal zu werden scheint, die nichts mehr zu erwarten haben und nichts mehr gestalten wollen. Apathie macht sich breit in den Straßen, erkennbar am zunehmenden Verlust jeglicher Restästhetetik. Man verschanzt sich in seinen Wohnungen, zieht sich ins Private zurück, während der Bezug zur unmittelbaren und erweiterten Außenwelt nicht nur schwindet, sondern diese Außenwelt, die letztlich auch das Gemeinschaftliche repräsentiert, zu etwas Feindlichem mutiert.

Ästhetik der Entfremdung

Wenn der Bezug zur Außenwelt in Teilen auch die Innenwelt widerspiegelt, dann scheint es um letztere nicht mehr gut bestellt zu sein, was sich an der statistisch signifikanten Zunahme psychischer Erkrankungen überdeutlich ablesen lässt. Immer mehr Menschen scheint die Identifikation mit wesentlichen identitäts- und gemeinschaftsbildenden Faktoren abhanden zu kommen, was einer grassierenden Entfremdung Tür und Tor öffnet.

Die Ursachen liegen auf der Hand: Nach dem plötzlichen Verlust einer Vielzahl an politischen und rechtlichen Gewissheiten in der Coronazeit, die mit dem rapiden Verfall von als sicher geglaubten zivilisatorischen Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten einherging, kam die Mobilisierung für den Krieg. Die anschwellende Kriegsrhetorik politischer Hasardeure wurde hoffähig, während vor dem Hintergrund einer drohenden Vernichtung Europas in einem atomaren Konflikt gleichzeitig der Glaube an die Vernunft der politischen Akteure schwand.

Hier lassen sich grob drei mögliche Bewältigungsstrategien nennen, nämlich a) der bedingungslose Opportunismus in Gestalt der in der Coronazeit bereits geprobten Introjektion der Narrative von Machteliten, b) das vernunftgesteuerte Opponieren dagegen unter der permanenten Gefahr der sozialen und beruflichen Ächtung sowie c) einer Form der dissoziativen Apathie als Endpunkt eines schleichenden Entfremdungsprozesses, also der fortschreitenden Abspaltung eines Teils der Wirklichkeit vom Gedanken- und Bewusstseinsstrom.

Entfremdung bedeutet zugespitzt, dass man subjektiv mit nichts mehr etwas zu hat, außer vielleicht seinem eigenen relativen Wohlbefinden, mit nichts mehr etwas gemeinsam hat, im Extremfall nicht einmal mehr mit sich selbst. Marli, um beim Beispiel zu bleiben, wird immer mehr von atomisierten Organsimsen bevölkert, die ihr Gegenüber tendenziell als Gegner, Feind, Kontrahent oder Konkurrent, im besten Falle nur als Störquelle wahrnehmen. Blickt man in die Gesichter der Passanten, erkennt man immer öfter den gelbfaltigen Ausdruck pathologischen In-Sich-Zurückgezogenseins, der Flucht ins verkümmerte Ich. Die Ästhetik des Zerfalls und der Entfremdung glotzt einem aus den Gesichtern auf dem Kaufhof zigfach entgegen.

Gestaltungsräume

Ebensowenig, wie man nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawik), kann man auch nicht nicht gestalten. In der mutmaßlichen Gleichgültigkeit der Folgen ihrer Handlungen entpuppen sich die entfremdeten und atomisierten Individuen als wahre Stadt-Landschaftsarchitekten. Weil der mittlerweile mehrdimensional gespaltenen Gesellschaft fast jeglicher Gemeinsinn abhanden gekommen ist, schwindet auch das Verantwortungsgefühl rapide. Dann transportiert man seinen Kram eben mit dem Einkaufswagen vom Discounter nach Hause und lässt das Ding in bester Wegwerfmentalität dann einfach irgendwo stehen. Scheißegal, wem es gehört und was damit passiert, scheißegal, wie das hinterher aussieht und wer es wegräumen muss.

Und so führt die eigene mentale Abschottung zu vermehrter Entgrenzung und Übergriffigkeit, zu schwindender Wertschätzung kollektiver Güter; die Erosion der inneren Lebenswelten erodiert die äußeren Lebenswelten, die in ihrer antiästhetischen Trostlosigkeit den seelischen Zustand einer Gesellschaft markieren, die gefangen ist zwischen den autoritären und durchmoralisierten Denkvorschriften des politisch-medialen Komplexes einerseits und der sukzessiven Zerstörung der materiellen Lebensgrundlagen durch ebendiese Kräfte andererseits. Es ist mithin das eklatante Missverhältnis zwischen dem vermittelten Gestaltungsanspruch der herrschenden Kräfte und deren tatsächlicher Destruktivität in den Lebenswirklichkeiten der Menschen.

Die von den Machteliten eingeleitete zivilisatorische Regression fordert ihren Tribut, sie gestaltet die Lebenswirklichkeiten auch auf Marli. Und so steht zu befürchten, dass die Einkaufswagen und der Müll wohl eher zunehmen werden.