Zur Aufarbeitung des Corona-Krise gehört zwingend die Frage nach der Rolle der Medien. Diese hatten einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung regierungsamtlicher Narrative und oft übergriffiger und grundrechtsverletzender Maßnahmen geleistet. Die Beeinflussung der Bevölkerung zur weitgehenden Befürwortung eines dauerhaften Ausnahmezustands bei Suspendierung wichtiger freiheitlich-demokratischer Prinzipien konnte letztlich nicht ohne die gemeinschaftliche Anstrengung der Massenmedien geschehen.
Der Journalist Timo Rieg hat eine umfangreiche Fallsammlung zusammengetragen, in der die vielfältigen und teils erschreckenden journalistischen Defizite sogenannter Qualitätsmedien aufgeführt und kommentiert werden.
Rieg beleuchtet die zumeist aus dem Jahr 2020 stammenden journalistischen Mängel anhand einer Reihe von Qualitätskriterien und erläutert sie anhand zahlreicher Fallbeispiele. Dabei wird deutlich, wie vielschichtig die Beeinflussung der Adressaten durch Medien und wie wirkungsvoll letztlich die manipulative und herrschaftsstabilisiernde Funktion des etablierten Mediensystems ist. Wie es zu diesem Funktionsverlust der „4. Gewalt“ und ihrer erschreckenden Konzertierung kommen konnte, wird hoffentlich Gegenstand künftiger medienwissenschaftlicher Forschungen sein.
Journalistische Qualitätskriterien:
- Richtigkeit (nicht falsifizierbare Aussage): Hier geht es um die Unterscheidung von Meinung und Tatsachen, um fehlende / schlechte Recherche, fehlerhafte Kausalitätszuweisungen, unbelegte oder ungenaue Behauptungen, falsche Prognosen.
- Vollständigkeit (weitere Informationen führen nicht zu einem relevant anderem Bild): willkürliche Schwerpunktsetzung, fehlende Einordnung (z.B. Fallzahlen ohne Bezugsbasis, volle Intensivstationen ohne Verweis auf Zustände außerhalb der Pandemie), Übertragung auf benachbarte Sachverhalte zur Einordnung („Whataboutism“), die Darstellung von Ausschnitten als das Ganze.
- Meinungsvielfalt (als wesentliche Grundlage für die politische Orientierung der Bürger in einer Demokratie): Ausblendung der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition, Nichtabbildung des relevanten Meinungsspektrums, Bevorzugung bestimmter Personen in der öffentlichen Darstellung (z.B. Gäste in Talkshows – Lauterbach)
- Repräsentativität (Auswahl von Inhalten und Protagonisten anhand ihrer relevanten Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs): nicht-repräsentative Darstellung einzelner Sachverhalte (z.B. überfüllte Intensivstation, Verhältnis zwischen Infektion und Intensovbehandlung, extreme Monothematisierung zum Thema „Corona“ , einseitige Auswahl der Stimmen Befragter), Skandalisierung: Herausgreifen einzelner, nicht repräsentativer Ereignisse aus Kontext (z.B. Schilderungen von Gewalt auf maßnahmenkritischen Demonstrationen, gezielte Visualisierung („Bergamo“)
- Objektivität (Unabhängigkeit des Berichteten von persönlichen Sichtweisen, so dass diese als intersubjektiv und realitätsgetreu aufgenommen werden): Hier nahmen Journalisten oft einen persönlichen und unhinterfragten Glaubensstandpunkt ein, ihre Subjektivität wurde nicht thematisiert. Auch bedeutete Expertentum nicht zwangsläufig Objektivität, wie der hierarchisch und nach strengen Karrierebedingungen organisierte Wissenschaftsbetrieb naheliegt. Die Übernahme von Narrativen diente der eigenen Orientierung an Glaubensstandpunkten, was auch das Framing, das moralische Umdeuten und Aufladen, vereinfachte. Folge war nicht selten binäres Denken (eine gegenteilige Aussage ist kaum vorstellbar).
- Relevanz (Gewichtung der einzelnen Systemebenen): Beurteilung des Nachrichtenwertes anhand der ökonomischen Verwertbarkeit einer Information, Einzelfälle sind nicht nicht nur nicht-repräsentativ, sondern oft auch nicht relevant.
- Recherche: In der Corona-Berichterstattung war ein weitgehender Verzicht auf Recherche augenfällig. Grundlegende Fragen wurden nicht gestellt und auch nicht recherchiert (z.B. generelle Alternativen zur Pandemiepolitik, Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen, Fragen zur Übereinstimmung politisch-institutioneller Abläufe mit demokratischen Prinzipien.
Eine wichtige und gerade in der Retrospektive erschreckend eindrückliche Zusammenstellung von Zeugnissen des journalistischen Versagens.
Download „Qualitätsdefizite im Corona-Journlismus. Eine kommentierte Fallsammlung“ auf ResearchGate