27. März 2023

Das Wort zum Sonntag: Von der nächsten Welle zur „Demokratie nach Zahlen“?

Social-Media macht manchmal Spaß. Zumindest dann, wenn Beiträge zum Anlass für interessante Diskussionen werden. So geschehen mit einem Thread, den ich auf meiner Facebook-Präsenz veröffentlicht hatte. Anlass waren die sehr tendenziösen Berichte im NDR (NDR-Info) zum „Anstieg des Corona-Infektionsgeschehens“ und ihren Ursachen, die man recht unverblümt in Reiserückkehrern und feierwütigen jungen Menschen sah. Gleichzeitig strahlte man die mahnenden Stimmen und erhobenen Zeigefinger ensprechender Politiker aus Bund und Ländern besonders prominent und deutlich durch den Äther.

Ein „seriöses“ Qualitätsmedium als Erfüllungsgehilfin der staatlichen Coronapolitik, das in bester Propagandamanier Feinbilder produziert? Die „vierte Gewalt“ als Dienerin der Exekutive? Wie dem auch sei, auf meinen Text wurde geantwortet. Es ergab sich eine kleine Diskussion, die ich an dieser Stelle veröffentlichen möchte. Selbstverständlich bleibt die Identität meines Mitdiskutanten anonym.

Den Beitrag hatte im August 2020 gepostet, die Diskussion mit Mrs. X fand dann ebenfalls statt.

Ursprungsbeitrag auf Facebook: 

Es scheint ein Interesse der Exekutiven an der Aufrechterhaltung des aktuellen autoritären Notstandsstaats mit seinen reduzierten demokratischen Verfahren zu geben. Es gilt das Narrativ der „Verantwortung aller für die Gesundheit aller“, die hie und da schonmal gerne mit vermutlich verfassungswidrigen Erlassen erzwungen werden soll. Doch hier macht eine gewisse Bigotterie stutzig:

Denn es interessieren sich dieselben Exekutiven in anderen Bereichen auffällig wenig für diese fürsorgliche „Verantwortung aller für alle“ und nehmen „Menschenopfer“ als Kollateralschäden übergeordneter Werte und Interessen billigend in Kauf (z.B. Straßenverkehr, industrielle Landwirtschaft, Luftverschmutzung, Klimawandel, Trinkwasserverschmutzung, Gift / Antibiotika in Lebensmitteln, resistente Keime in Krankenhäusern, Rüstungsexporte, wachsende soziale Spaltung, prekäre Jobs etc.).

Die Lage der Exekutiven ist also sehr komfortabel: Sie können sich als fürsorgliche und verantwortungsvolle Krisenmanager inszenieren und dürfen sich (nicht zuletzt dank kräftig unterstützender Medien) der Gunst einer besorgten bis verängstigten, in weiten Teilen aber erschreckend demokratiemüden Zivilgesellschaft sicher sein.

Diese nimmt selbst einschneidende Grundrechtsbeschränkungen mehrheitlich kritiklos hin und scheint auch kein Interesse an einem dringend gebotenen Diskurs zu Verhältnismäßigkeit, Wirksamkeit oder existenziellen, gesundheitlichen wie psychosozialen Folgeschäden der „Coronamassnahmen“ zu haben (was vor einigen Jahrzehnten vermutlich undenkbar gewesen wäre). Gleichzeitig kann die Bundesregierung von ihrem Versagen auf anderen Politikfeldern prima ablenken.

Dieses kommunikative Muster ist vielfach erprobt und wird in den Massenmedien munter verbreitet: Kritiker der Maßnahmen werden mit Rechtsradikalen und esoterischen Verschwörungstheoretikern gleichgesetzt (Diffamierung). Parallel dazu wird Angst geschürt und vor den verheerenden Folgen einer „zweiten Welle“ gewarnt, für deren Verhinderung jeder und jede Einzelne die Verantwortung trage. Es werden Feindbilder aufgebaut (Reiserückkehrer, Partygänger, feiernde Jugendliche) und gleichzeitig Generationen gegeneinander in Stellung gebracht („Wenn ihr feiert oder demonstriert, gefährdet ihr die Leben unserer Großeltern“). Die Repressionsschraube wird angezogen (Zugangsbeschränkungen, Platzverweise, dauerhafte Polizeipräsenz) und ganz nebenbei noch unliebsame Subkulturen ausgemerzt sowie bestimmte Teile des Kulturlebens geschliffen. Kurzum, es entsteht eine (kurzfristige) auf Angst gegründete Pseudo-Solidarität, der eine tiefe, langanhaltende gesellschaftliche Spaltung und Desintegration gegenübersteht.

Und die „zweite Welle“? Ja die kommt sicher, denn sie könnte den Exekutiven bestens in den Kram passen, da sich annehmen lässt, dass sich von der Bundeskanzlerin über die Landesfürsten bis hin zu Bürgermeisterinnen alle über den plötzlichen Machtzuwachs ohne lästige demokratische Aushandlungsprozesse freuen dürften.

Klar, dass die alarmistisch steigenden Coronazahlen des RKI (eine weisungsgebundene Bundesbehörde, also auch ein Teil der Exekutive) dabei eine wichtige Rolle spielen, sei es für die zweite, dritte, siebzehnte oder hundertachtundfünfzigste Welle. Meine kulturpessimistische Dystopie: Demokratie / Grundrechte nach Zahlen….

Disclaimer: Ich bin kein Rechtsradikaler, halte nichts von Verschwörungstheorien und leugne auch nicht die Gefährlichkeit des Coronavirus’. Um so mehr bin ich vom Deutschen Grundgesetz und einer tragfähigen demokratischen Gesellschaftsordnung überzeugt.

Und hier die Diskussion darauf:

Mrs. X:

In einer parlamentarischen Demokratie werden nicht alle Entscheidungen basisdemokratisch getroffen.
Man kann die Situation auch anders bewerten: obsiegt nicht erstmals Politik über Kapital? Wird nicht tatsächlich Solidarität durch das Maskentragen vermittelt? Die Orientierung an Wissenschaft in Zeiten des Populismus, wer hätte dies für möglich gehalten….

FS:

In einer parlamentarischen Demokratie werden Entscheidungen in der Regel im parlamentarischen Prozess getroffen (der zurzeit mangels einer aktiven Opposition kaum stattfindet), basisdemokratische Elemente sind nicht das wesentliche Element und müssten die inaktive Legislative eigentlich erst Recht ergänzen. Die Gewaltenteilung ist momentan stark zu Gunsten der Exekutive verschoben, was demokratietheoretisch hochproblematisch ist.

Die Corona-Massnahmen führen mitnichten zu einem „Sieg der Politik über das Kapital“, indem einer gewaltigen Umverteilung hin zu großen Konzernen Vorschub geleistet wird: Kleine und mittelständische Unternehmen sterben, während die großen von den staatlichen Hilfen, ihrer Größe und Marktstellung besonders profitieren.

Maskentragen als Zeichen der Solidarität? In vielen Fällen ist das Tragen der Masken fachlich nicht begründbar (sagte z.B. neulich ein Virologe im Interview auf NDR-Info) Wird es trotzdem angeordnet, liegt Behördenwillkür vor. Und überhaupt: Was ist das für eine Solidarität, die behördlich angeordnet wird?

Orientierung an Wissenschaft: Es wurde monothematisch nur eine Disziplin in die politische Beratung einbezogen (Virologie). Die fachliche Expertise von z.B. Gesellschaftswissenschaften oder Psychologie wurde weitgehend außer Acht gelassen, so dass die komplexen gesellschaftlichen Folgen des Shutdowns nur mangelhaft antizipiert werden konnten.

Mrs. X:

Dass bspw die psychologischen Folgen mehr Beachtung finden sollten, finden angesichts der Tatsache, dass nämlich Enkel ihre Großeltern anstecken etc., tatsächlich zu wenig Beachtung. Warum orientierst du dich nicht an den Ländern und Orten, an denen die Verhältnisse nicht so gemütlich sind, wie (noch) In Deutschland? Es gibt kein deutsches Gen, dass verhindert, dass wir erkranken. Die radikalen Maßnahmen haben doch erst dafür gesorgt, dass wir keine Massengräber wie in Italien, Spanien, USA haben. Eine sozialistische Perspektive solidarisiert sich doch mit den Schwächsten, oder?! Wer stirbt denn in den Ländern, wo nicht so konsequent vorgegangen wird?!

FS:

Andere Länder haben ganz andere und wenig vergleichbare Lebensbedingungen (zB gravierende Luftverschmutzung in der italienischen Po-Ebene, Zugang zu medizinischer Versorgung / durchschnittliche gesundheitliche Verfassung und Krankheitsanfälligkeit der Bevölkerung etc.), was im wesentlichen auf politisches Versagen zurückzuführen ist, das die Menschen in Form von gravierenden Grundrechtseinschränkungen (Ausgangssperren) ausbaden mussten. Das Versagen neoliberal geprägter Agenden wurde also wieder einmal„sozialisiert“ – als Vergleich zu den hiesigen Verhältnissen taugt der Blick in andere Länder also kaum.

Dass die „radikalen Maßnahmen“ in D zu einem moderaten Verlauf der Pandemie gesorgt hätten, ist ein heuristischer Fehlschluss (s.o., unzulässiger Vergleich) und mindestens hochspekulativ, da ein empirisch nicht überprüfbarer Zustand vorausgesetzt wird.

Update: Und waren nicht die Maßnahmen in vielen anderen Ländern ungleich „radikaler“ (zB Ausgangssperren in Indien trotz erheblicher sozialer Probleme) und trotzdem nicht allzu erfolgreich (Frage nach Verhältnismäßigkeit).

Solidarität mit den Schwächsten: Sind es nicht gerade die Schwächsten, die von den Corona-Maßnahmen besonders stark betroffen sind (Alleinerziehende, Menschen mit kleinen Wohnungen und ohne Gärten während Ausgangssperren, fehlendes digitales Equipment in sozial benachteiligten Haushalten, daraus resultierende wachsende Bildungsungerechtigkeit, anwachsende häusliche Gewalt, Jobverlust insbesondere im unteren Lohnsektor, Traumatisierung von Kindern infolge von Kontaktsperren, Existenzverlust / Insolvenzen von Klein- und Einzelunternehmern inclusive der sozialen Folgekosten in den familiären Systemen etc. etc.) ? Auf der anderen Seite kommen materiell privilegierte Menschen besonders gut durch die Krise – was das mit „Solidarität mit den Schwächsten“ zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Im Gegenteil wird durch die Coronakrise die soziale Ungleichheit noch weiter verstärkt, und zwar als direkte Folge der durch die Exekutiven erlassenen Verfügungen.

Und ist es nicht die Pflicht von Demokraten, die weitreichendsten Grundrechtseinschränkungen seit dem Dritten Reich kritisch zu diskutieren?