Zentrifugalkräfte der Eskalationsspirale

Mit 83 Raketen auf innerukrainische Ziele reagierte die russische Armee auf eine Reihe von Provokationen, zu denen zuletzt der Anschlag auf die strategisch wichtige Krim-Brücke zählte. Dieser Gegenschlag, dem viele weitere folgen könnten, markiert einen weiteren vorläufigen Höhepunkt der Eskalation des Ukrainekrieges. Die Reaktionen des Westens folgten prompt: Außer der fast parteiübergreifenden Forderung nach der Lieferung weiterer schwerer Waffen kündigten sowohl die Bundesregierung als auch die Biden-Administration die Lieferung modernster Luftabwehrsysteme in die Ukraine an. Nachdem der höchstwahrscheinlich staatsterroristische Anschlag auf die Nord Stream Röhren den Krieg weiter nach Mitteleuropa rücken ließ, wird immer deutlicher, dass sich die Ereignisse in rasantem Tempo zuspitzen. Eine Deeskalation ist in weite Ferne gerückt, der große Krieg dagegen gerät ins Sichtfeld.

Russische Strategieänderung 

Zwar liegt bislang noch kein „Bekennerschreiben“ zum Anschlag auf die Krim-Brücke vor, gleichwohl darf mit großer Wahrscheinlichkeit von einer geheimdienstlichen Spezialoperation seitens der Ukraine ausgegangen werden, da der Transport und die punktgenaue Zündung einer gewaltigen Sprengladung auf der sicherheitstechnisch hochüberwachten Brücke Spezialkenntnisse erfordert. Da mit russischen Gegenschlägen gerechnet werden musste, stellt sich die Beantwortung der Frage nach der Motivation für den Anschlag als schwierig  dar. Möglich wäre eine Inkaufnahme oder gar Provokation von Gegenschlägen, um die westlichen Verbündeten vor dem Hintergrund massiver Truppenverluste infolge der Gegenoffensive zu noch weiteren und schnellen Militärhilfen zu motivieren, bevor der Winter anbricht.

Russland antwortete jedoch nicht nur mit Gegenschlägen, sondern schien am 11. Oktober – auch auf innenpolitischen Druck – einen Strategiewechsel eingeleitet zu haben. Wurden nennenswerte Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine (mit Ausnahme von Bahnschienen zum Nachschub westlicher Waffen) im Rahmen der russischen Militäroperation bislang in auffälliger Weise unterlassen – jedenfalls so weit das in einer militärischen Auseinandersetzung überhaupt möglich ist – gerieten nun neben militärischen Einrichtungen auch solche der zivilen Energieversorgung in die Zieleinrichtungen der Marschflugkörper. Mit weiteren Angriffen ist zu rechnen, zumal auf westlicher Seite weiter an der Eskalationsspirale gedreht wird.

Damit kündigt sich eine Änderung der russischen Militärstrategie an, was sich nicht zuletzt in der Personalie Sergej Surowikin andeutet, der als General nun die Luft- und Raumstreitkräfte befehligt. Surowikin ist als militärischer Hardliner bekannt und könnte für eine Hinwendung der russischen Strategie zum Stil des Shock and Awe (Furcht und Schrecken) stehen, die bisher als Domaine der US-amerikanischen Militärstrategien galt (etwa beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak, der ca. 150.000 zivile Todesopfer zur Folge hatte). 

Kein Interesse an Frieden

Mit Blick auf die Verlautbarungen führender Politiker im In- und Ausland fällt eine Verschärfung der Kriegsrhetorik auf, die selbst den Einsatz atomarer Massenvernichtungswaffen ins Kalkül zieht. So wollte Annalena Baerbock auch eine nukleare Antwort von Seiten Vladimir Putins auf die Lieferung schwerer Waffen nicht ausschließen, was damit gleichbedeutend ist, dieses Risiko bewusst in Kauf zu nehmen. Anstelle alle diplomatischen Register der Deeskalation zu ziehen und Verhandlungen anzustreben, gerät für Frau Baerbock die Vernichtung Europas in den Raum dessen, was nicht mehr mit den Mitteln der Außenpolitik zu verhindern sein muss. Klassisches binäres Denken: Entweder wir (USA/NATO/Ukraine) siegen oder alle gehen gemeinsam im atomaren Inferno unter (als erschreckendes Beispiel hierzu ein Tweet der Publizistin Liane Bednarz):  

Deutlicher dagegen äußerte sich die neue britische Premierministerin Liz Truss als sie damit prahlte, nötigenfalls auch einen Atomschlag auf Russland durchführen zu wollen, selbst um den Preis der globalen Vernichtung. Von einem politischen und medialen Aufschrei war trotz der apokalyptischen Brisanz ihrer Worte wenig zu vernehmen, das makabre Spielen mit der massenhaften Vernichtung irdischen Lebens ging vielmehr unter im kriegstrunkenen Propagandagetöse der westlichen Massenmobilisierung.  

Auch Joe Biden fühlte sich vor Kurzem bemüßigt, vor einem nuklearen Armageddon zu warnen und beurteilte die atomare Kriegsgefahr als so hoch, wie seit der Kuba-Krise nicht mehr. Der Schwarze Peter wurde, wie sollte es auch anders sein, Russland zugeschoben. Entsprechende Geheimdienstinformationen lagen zwar nicht vor, doch der Aufbau des Feindbildes muss schließlich weitergetrieben werden. Gleichzeitig verstärkt die Biden-Administration die militärische Unterstützung der Ukraine, gießt weiter Öl die Flammen des Krieges und eskaliert nach Leibeskräften. Auch hier wieder das neue Muster apokalyptischer Unbekümmertheit: Ein Atomkrieg, der Untergang der Zivilisation, wird handlungsseitig in vollem Bewusstsein riskiert.

Die gleiche fahrlässige Unbekümmertheit im Spiel mit Millionen Menschenleben legte Wlodymyr Selenskyj an den Tag, als er auf einer Online-Schalte ins australische Lowy-Institut von Präventivschlägen gegen Russland sprach und damit heftige Reaktionen im Kreml provozierte. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Lenker einer Atommacht den Einsatz von Nuklearwaffen verbal androhen oder nicht, denn diese Möglichkeit ist in der komplexen Kontingenz militärischer und politischer Ereignisse niemals auszuschließen und muss daher von vornherein mit allen Mitteln verhindert werden – und zwar von den Hauptantagonisten sowie deren jeweiligen Verbündeten. Das war bereits John F. Kennedy klar, als er sagte: 

„Vor allem müssen die Atommächte bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.“

John F. Kennedy

Es ist der Todeswunsch, der offensichtlich die Oberhand gewonnen hat. Markiert die Zeitenwende als Zivilisationsbruch bereits das Zeitenende?

Moralistische Rationalitätsverweigerung

Internationale Beziehungen sind zwischenmenschlichen Beziehungen in vielerlei Hinsicht nicht unähnlich. Es gilt, Motive hinter Handlungen in übergeordneten Metakonstellationen zu erkennen und dabei staatliche Entwicklungsaufgaben, historische Erfahrungen, materielle Ressourcenbestände und aktuelle sowie angestrebte Vernetzungen (personale / soziale Ressourcen) im Blick zu behalten. Auch hier sind Empathie und Perspektivübernahme gefragt, wenn es gilt, Konflikte zu verstehen, zu moderieren und vermittelnd auszugleichen.

Der Ukrainekonflikt hat eine lange Vorgeschichte, auf die hier im Blog bereits eingegangen wurde. Eine zentrale Rolle spielen dabei US-amerikanische geostrategische Interessen, für deren Umsetzung die USA Bündnispartner oder abhängige Vasallen im Rahmen von NATO und EU instrumentalisiert.

„Die Geschehnisse in der Ukraine und der durch die militärischen Angriffe Russlands ausgelöste Krieg haben zu einem zivilisatorischen Regress geführt, dessen Dimensionen wohl erst in den kommenden Jahren sichtbar werden. Die EU hat bei der Bewältigung der Ukraine-Krise in einem historischen Ausmaß versagt, und sie wird zu den großen Verlierern dieser Krise zählen. Sie hat die Krisenregie vollständig an die USA abgetreten und die europäische Stabilität und Friedensordnung sowie den Wohlstand ihrer Bürger den imperialen geopolitischen Zielen der USA untergeordnet.“

Prof. Rainer Mausfeld (Psychologe), Auszug (NachDenkSeiten) aus „Tamtam und Tabu. Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende.“ (Mausfeld, Dahm; 2022, Westend)

Deutschland spielt in diesem Szenario eine besondere Rolle, da das durch günstige russische Energie befeuerte bundesdeutsche Wachstumsmodell zum einen eine Konkurrenz für die US-Wirtschaft darstellt und zum anderen auch die Gefahr einer engeren Kolaboration zwischen Russland und Deutschland birgt, die es aus transatlantischer Sicht unbedingt zu verhindern gilt.

So wurde auf Betreiben der US-Regierung die deutsche Energieversorgung auf dem Wege der Sanktionspolitik von Russland entkoppelt, was trotz massiver volkswirtschaftlicher Schäden dank der willfährigen Ampelkoalition und einer weitgehend konformistischen bis apathischen Bevölkerung problemlos vonstatten ging. Auch baut die US-Army in Ramstein ihren wichtigsten und größten exterritorialen Militärstützpunkt beständig weiter aus und koordiniert von dort aus nicht nur Waffenlieferungen in die Ukraine, sondern auch allerlei militärische Operationen. Das Vorhandensein dieser riesigen und operativ wichtigen Militärbasis auf deutschem Boden darf als Symbol für die eingeschränkte staatliche Souveränität der Bundesrepublik gelten.

Eingeschränkt souverän verhält sich die deutsche Regierungspolitik auch in der Beurteilung des Ukraine-Konfliktes. Es herrscht das Narrativ des zu Unrecht angegriffenen Landes vor, das mit freundlicher Unterstützung guter Verbündeter Demokratie und Freiheit, mehr noch, die westliche Lebensweise gegen den irrwitzigen Feind im Osten verteidigt. Dass aus der Vorgeschichte des Konflikts sowie der geopolitischen Konstellation in Wirklichkeit ein Stellvertreterkrieg zwischen USA und Russland auf ukrainischem Boden ausgetragen wird, findet in der dominierenden politischen Bewertung sowie der Berichterstattung kaum einen Niederschlag. Dort dominiert ein radikaler Moralismus, der aus Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen heheren Motive zum unerbittlichen Kampf gegen das Niederträchtige bläst.

Eine Rationalitätsverweigerung mit verheerenden Folgen, denn in einer Atmosphäre der ereifernden Entrüstung verbieten sich Verhandlungen mit den Gegner von selbst. Es bleibt nur der bis zum Letzten eskalierende Krieg.

Wenn Frieden keine Alternative ist

Im ukrainischen Staatsstreich von 2014 wurde der gewählte pro-russische Präsident Wictor Janukwoitsch mit westlicher Unterstützung illegal aus dem Amt geputscht und durch den pro-westlichen Unternehmer Petro Poroshenko ersetzt. Hintergrund war die Umsetzung der geostrategischen Pläne der USA mit der Ukraine als taktischem Schlüsselstaat zur Abwendung einer Hegemonialstellung Russlands auf dem eurasischen Kontinent sowie die Verhinderung des Eintritts der Ukraine in eine entsprechende Zollunion aus Russland, Belarus und Kasachstan.

Im Nachgang zum Maidan-Staatsstreich wurde die ukrainische Armee Schritt für Schritt durch Ausbildung, Training der Einsatzverfahren, Integration in NATO-Manöver und stetige Aufrüstung auf einen baldigen NATO-Beitritt vorbereitet. Gearbeitet wurde auch der Entwicklung der Führungsfähigkeit, einem wesentlichen Aspekt erfolgreicher Kriegsführung durch effektiven und effizienten Einsatz von Waffen und Truppen. Unterstützung in all diesen Dingen erhielt die ukrainische Armee durch militärische Berater aus Großbritannien und den USA. Im Rahmen der European Reassurance Initiative ließ Friedensnobelpreisträger Barack Obama eine Milliarde Dollar für die Aufrüstung osteuropäischer NATO-Staaten und anderer Verbündeter, darunter auch das Partnerland Ukraine, bereitstellen.

Ende 2013 begann der ukrainische Bürgerkrieg. Poroschenko ließ Truppen im traditionell russisch geprägten Osten des Vielvölkerstaats Ukraine aufmarschieren und Städte unter Artilleriebeschuss nehmen. Dabei spielten nicht nur ethnische Spannungen eine Rolle, die von rechtsradikalen Kräften in Kiew ausgingen, sondern auch die überwiegende Ablehnung der westlichen Anbindungspolitik von Petro Poroschenko. Der „Große Vaterländische Krieg“ (Poroschenko) diente nicht zuletzt der Sicherung des durch seine Kohlevorkommen für die ukrainische Wirtschaft eminent wichtigen Donbass.

Auch die Minsker Abkommen konnten dem Bürgerkrieg kein Ende setzen, immer wieder wurde der vereinbarte Waffenstillstand gebrochen. Die Kriegsparteien beschuldigten sich gegenseitig, das Leid der Zivilbevölkerung nahm kein Ende. Schließlich landete die sukzessive Rückeroberung von Krim und Donbass auf der Agenda von Proschenkos Nachfolger Selenskij – und damit jede Menge Brüche der Minsker Vereinbarungen. Die Hoffnung auf Frieden schwand mit den Ambitionen des neuen Schauspieler-Präsidenten und zwielichtigen Oligarchen, die Ukraine endgültig in das US-geführte Kriegsbündnis und den EU-Wirtschaftsraum zu überführen.

Nach dem Stopp der Auszahlung von Sozialleistungen an die ostukrainische Bevölkerung sowie deren Abkopplung vom ukrainischen Bankensystem durch Kiew, leistete Russland zunächst humanitäre Hilfe. Angesichts des Beschusses durch die ukrainische Armee liegt auch die Lieferung von Waffen an die Separatisten im Bereich des Möglichen. Mit dem Kappen wichtiger infrastruktureller Versorgungsstrukuren durch Kiew schlossen sich die abtrünnigen Gebiete zunehmend der russischen Infrastruktur an

Vor dem Hintergrund der Rückeroberungsbestrebungen Selenskijs sowie des zunehmenden Beschusses erkannte Russland die autonomen Volksrepubliken Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten an (21.02.2022). Kurz zuvor war die Anzahl der abgefeuerten Artilleriegeschosse an der sog. Kontaktlinie laut OSZE-Angaben sprunghaft von täglich ca. 20 – 30 auf weit über 1.000 angestiegen, was als deutliches Anzeichen einer bevorstehenden Offensive ukrainischer Regierungstruppen gedeutet wurde. Russland leistete offiziell ab dem 24.02.2022 unter Bezugnahme auf Artikel 51 der UN-Charta militärischen Beistand zur Selbstverteidigung der Volksrepubliken und zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Rahmen einer militärischen Sonderoperation. Deren Ziele in der Ukraine wurden von Beginn der Operation an konkret benannt: 1) Entmilitarisierung, 2) Aufgabe der autonomen Gebiete Donezk, Luhansk und Krim durch die Ukraine, 3) Schaffung eines neutralen Status, 4) Entnazifizierung (bezogen auf ukrainiusch-nationalistische und rechtsradikale Kräfte im Umfeld der Regierung).

Festzuhalten bleibt, dass der Krieg zu jedem Zeitpunkt hätte verhindert werden können, indem sich die Regierung Selenskij an das Minsker Abkommen gehalten und den Volksrepubliken einen autonomen Status zuerkannt sowie die Regierungstruppen abgezogen hätte. Selenskij darf durchaus als Spielfigur der US/NATO-Interessen angesehen werden, deren Vertreter ebenfalls keine Anstrengung zur Befriedung des Konfliktes unternommen haben. Bis wenige Wochen nach dem russischen Einmarsch zeigte Präsident Selenskij wohl unter dem Eindruck schwindender Waffenbestände und einer spürbaren Unterlegenheit der ukrainischen Armee durchaus die Bereitschaft für Verhandlungen. Er änderte seine Einstellung jedoch sehr schnell in die gegenteilige Haltung, wohl nachdem ihn Boris Johnson in einem persönlichen Gespräch entsprechend gebrieft hatte und auch die Lieferungen schwerer Waffen aus dem Westen erfolgversprechende Ausmaße anzunehmen begannen.

Auch in diesem Stadium hätte der Konflikt auf dem Verhandlungstisch beigelegt werden können, doch daran bestand seitens USA und NATO offensichtlich kein Interesse. Im Gegenteil: Während der NATO-Einflussbereich immer weiter nach Osten ausgedehnt und damit die deutlich artikulierten Sicherheitsinteressen Russlands verletzt wurden, mutierte die NATO im Laufe des Ukraine-Krieges höchstselbst zur faktischen Kriegspartei, indem sie die ukrainische Armee nicht nur mit schweren Waffen ausrüstete, sondern auch Just-in-Time-Aufklärungsdaten und die strategische Mithilfe künstlicher Intelligenz bereitstellte.

Der Krieg hätte verhindert werden oder in einem frühen Stadium gestoppt werden können, hätte die Biden-Administration Verhandlungsbereitschaft bezüglich der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und auch Georgiens gezeigt. Das Gegenteil war der Fall, die US-Politik scheint ein atomares Inferno auf europäischem Boden zur Durchsetzung ihrer Interessen durchaus in Betracht zu ziehen. Dazu der US-Ökonom Jeffrey Sachs im Interview:

Sellvertreterkrieg mit bösem Ende

Anders, als die regierungsamtliche und massenmediale Propagandafront glauben machen möchte, hätte der russische Einmarsch in die Ukraine ohne die Provokationen des US-geführten Westens kaum stattgefunden. Zu sehr entspricht die Abfolge der Ereignisse den strategischen Interessen der USA, zu groß ist der Einfluss des strauchelnden Hegemons auf seine Vasallen in EU und NATO.

Meine zentrale Behauptung ist, dass die Vereinigten Staaten eine Politik gegenüber der Ukraine vorangetrieben haben, die von Putin und andren russischen Führern als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wird – ein Punkt, den sie seit vielen Jahren immer wieder vorbringen. Konkret spreche ich von Amerikas Besessenheit, die Ukraine in die NATO aufzunehmen und sie zu einem westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen.

John Mearsheimer (Politologe) in einem Vortrag

Mit Blick auf die aktuellen Ereignisse und die provozierende Rhetorik ukrainischer und westlicher Politiker gegenüber Russland scheinen die Zeichen auf maximaler Eskalation zu stehen. Wenn etwa der ukrainische Außenminister Olexij Resnikow anlässlich Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe und weiterer Zusagen für massive Militärhilfe in Brüssel tönt, die Ukraine sei bereits de-facto NATO-Mitglied, dann stehen die Zeichen auf Zeitenende. Zivilisatorische Regression (R. Mausfeld) ist in diesem Fall eine viel zu harmlose Bezeichnung einer Entwicklungsaufgabe, an der die Menschheit endgültig scheitern könnte.

„Mitte Februar 2015 wurden wir mit einem „Hoffnungsschimmer“ (von Angela Merkel) gefoppt: „Frieden in der Ukraine!“ Aber bereits unmittelbar nach dem Gipfel von Minsk hat der ukrainische Präsident Poroschenko die Vereinbarungen des Treffens wieder in Frage gestellt und die militärischen Angriffe gegen das Gebiet der Volksrepubliken fortgesetzt. Damit handelt er wahrscheinlich im Geist der Vereinbarung: Wie Wolfgang Ischinger, auf der Münchener Sicherheitskonferenz als deren Vorsitzender, erklärt hat, müsse man zwar den Kampf „zwischen Russland und dem Westen vom militärischen Feld zurück auf das ökonomische“ bringen. Aber das sei nur i.S. einer „Doppelstrategie“ zu verstehen: „Kampf“ soll es bleiben, auch wenn er auf das ökonomische Feld verlegt werden soll. Es bleibe dabei, dass der Westen auch in Zukunft eine „Position der Stärke“ demonstrieren müsse.

Dem tragen beispielsweise die Beschlüsse des NATO-Gipfels vom September Rechnung, auf dem die Mitgliedstaaten sich auf die Einrichtung einer Eingreiftruppe („Speerspitze“) einigten. Dieses Jahr ist Deutschland führend an ihr beteiligt. Es geht also weiterhin darum, Russland zu isolieren, wirtschaftlich zu schaden, zu destabilisieren, und die Ukraine und später auch weitere Nachbarstaaten in den Westen zu ziehen, zunächst nahe an die EU, dann in die EU und in die NATO, zunächst ohne Krieg.

Falls dies nicht ohne größeren Krieg möglich sein sollte, dann geht es aus der Sicht Deutschlands und des Westens darum, die Frage der Schuld an diesem Krieg jetzt schon zu beantworten, bevor der große Krieg begonnen hat. Dem dient das Friedensabkommen von Minsk. Es dient nicht der Kriegsvermeidung, sondern der Schuldzuweisung: die Russen sind schuld, genauer Putin, der seltsam gewendete Putin, wie es in einigen Einlassungen westlicher Politiker heißt.“

Prof. Klaus-Jürgen Bruder (Psychologe, Politiologe, Psychoanalytiker) in Der Diskurs der Verantwortungsübernahme (2015)

Im Video unten spricht der ehemalige US-Geheimdienstoffizier und Waffeninspekteur Scott Ritter Klartext.

https://youtu.be/K5-3Ywr-cW0