Nord-Stream-Anschläge: Hinweise auf USA verdichten sich

Viele große Elefanten sind zurzeit im Raum unterwegs. Einer der größten von ihnen ist die Rolle der USA bei den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines. Die Aussagen des Investigativjournalisten und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh  befeuern die These von der Täterschaft der Großmacht.

Rufe in der Stille

Still ist es geworden um die Anschläge auf die europäische Energieversorgung vom 26. September 2022. Zahlreiche Untersuchungen diverser Staaten brachten keine nennenswerten Ergebnisse zutage, jedenfalls keine, die an die Öffentlichkeit gelangten. Ein befremdlicher Umstand angesichts der Tatsache, dass ein derartiger Sabotageakt in technischer Hinsicht nur von einem gut ausgerüsteten staatlichen Akteur durchgeführt werden konnte und dies zudem in einem der am besten überwachten Gewässer der Erde geschah.

Während erste reflexhafte Schuldzuweisungen an Russland schnell im Schlaglicht offensichtlicher Plausibilitäten verpufften, förderte auch eine gemeinsame Untersuchung von Deutschland, Dänemark und Schweden keine neuen Erkenntnisse zutage. Über parlamentarische Anfragen der AfD und der von Abgeordneten der Partei Die Linke um Zaklin Nastic und Sarah Wagenknecht setzte sich die Bundesregierung unter offensichtlicher Missachtung des Parlaments hinweg und erklärte, es bestehe ein „berechtigtes Geheimhaltungsinteresse zum Schutz der laufenden Ermittlungen.“

Viel ist seitdem nicht passiert in Sachen Aufklärung des folgenschweren Anschlages auf die europäische Gasversorgung und nationale Souveränität Deutschlands. Und man ist geneigt anzunehmen, dass man die hauptsächlich für Deutschland unerfreuliche Angelegenheit im europäischen und transatlantischen Raum so tief hängen möchte, dass sie sich in Wohlgefallen auflöst. Und: Ein Anschlag dieser Dimension wäre ein kriegerischer Akt mit allen völkerrechtlichen Konsequenzen. Innerhalb der USA scheint es Stimmen zu geben, die Joe Biden aufgrund seines möglichen Alleingangs unter Umgehung des Kongresses scharf kritisieren (nur der Kongress darf anderen Ländern den Krieg erklären, worauf die Zerstörung von Nord Stream faktisch hinausliefe).

Dorn im Auge

Die energiepolitische Kollaboration zwischen Deutschland und Russland ist den USA und einigen ihrer europäischen Vasallen schon seit Langem ein Dorn im Auge. Gründe dafür sind längerfristige geopolitische Strategien zur Absicherung der eigenen Hegemonie sowie die Schwächung der Stellung Russlands im eurasischen Raum, aber auch handfeste ökonomische Erwägungen hinsichtlich der Schaffung neuer Absatzmärkte für die US-amerikanische Flüssiggasindustrie.

Bestens in Erinnerung bleibt die Desavouierung von Kanzler Scholz durch Präsident Biden, die die Interessenlage und Motivation der USA zu einer möglichen Zerstörung der Pipelines bilderbuchartig verdeutlichte:

Und so wurde die (Mit-)Täterschaft der USA an den Nord-Stream-Anschlägen zu jenem Elefanten im Raum, den insbesondere hochrangige Bundespolitiker weder sehen wollen noch dürfen. Schließlich geht es dabei um den generellen Charakter des transatlantischen Verhältnisses, das Selbstverständnis des „Verbündeten“ USA, Grundfragen nationaler Souveränität und letztendlich das Gespenst des Hochverrats, sollten deutsche Regierungspolitiker auch nur in Form der Mitwisserschaft die staatliche Integrität preisgegeben haben.

Verdichtete Hinweise vom Top-Journalisten

Seymour Hersh zählt zur globalen Oberliga des Journalismus. Der mittlerweile 85-jährige Pulitzer-Preisträger deckte so manchen Skandal auf und machte sich damit beim politischen Establishment der USA nicht gerade beliebt. Letztendlich tat er genau das, was die Aufgabe guter Journalisten ist: Nämlich zu berichten, was ist, und dabei auch gerne den Finger in die Wunde zu legen.

In einem (englischsprachigen) Blogartikel bezieht er sich auf die Aussagen eines anonymen Informanten, der Kenntnis von den Abläufen der Anschläge gehabt haben soll. Demnach sei die Planung in etwa so abgelaufen (stark verkürzte Darstellung):

  • Eine Arbeitsgruppe wurde von Biden einberufen, die Reaktionen nach einer Invasion Russlands in die Ukraine ausarbeiten sollte. Sicherheitsberater Jack Sullivan schlug vor, die Nord-Stream-Pipelines zu zerstören (verdeckt, da kriegerischer Akt).
  • Die CIA arbeitete einen Plan zum Einsatz von US-Marinetauchern aus. Als Basis diente ein US-Stützpunkt in Norwegen. Norwegen galt als besonders vertrauenswürdig, weil a) der NATO-Generalsekretär und ehemalige norwegische Regierungschef Stoltenberg ein transatlantischer Falke ist und b) Norwegen mit der Baltischen Pipeline Gas über Dänemark nach Polen liefern will (die norwegischePipeline wurde kurz vor den Anschlägen eröffnet).
  • Eine Arbeitsgruppe erkundete die besten Stellen für einen Sprengstoffanschlag (Ergebnis: Nähe Bornholm).
  • Die Sprengladungen sollten während des jährlichen Baltops-Manövers von einem norwegischen Minenräumboot aus von US-Tauchern an den Röhren angebracht werden. Dänische und schwedische Behörden wurden über die Aktivität des Minenräumers informiert, um von den Tauchgängen abzulenken.
  • Die Zündung der Sprengsätze sollte durch eine per Flugzeug abgeworfene, fernsteuerbare Sonarboje erfolgen, um einen ausreichenden zeitlichen Abstand zum NATO-Manöver Baltops 22 zu ermöglichen und die USA aus der Schusslinie zu nehmen.
  • Die Boje wurde am 26. September abgeworfen und zündete die Sprengsätze.

Soweit in Kürze das durch den anonymen Informanten vermittelte Geschehen. Nun hängt der journalistische und politische Wert der Informationen eng an der Glaubwürdigkeit des Informanten und der Seriosität von Hersh. Über beides mag sich die Leserschaft ein eigenes Bild machen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass der Elefant im Raum mit diesen neuen Hinweis weitere Konturen hinzugewonnen hat und damit sicht- und greifbarer geworden ist.

Interessant ist die Rezeption von Hershs Erkenntnissen im massenmedialen Mainstream: Dort herrscht bislang überwiegend Schweigen zu dem Thema. Einzig Miriam Hollstein vom ausgesprochen regierungsnahen Medium t-online twitterte über die Bedeutung des Zweiquellenprinzips.

Weitere Infos:

Ben Norton: Geopolitical Economy Report v. 09.02.2023
Ivan Rodionov (InfraRot) v. 11.02.2023
Das 3. Jahrtausend (Robert Fleischer, Dirk Pohlmann, Matthias Bröckers) v. 09.02.2023
Sevim Dagdelen (Die Linke) vom 10.02.2023 (man achte auf die „emotionale“ Unruhe im Bundestag)